Medizinische Notwendigkeit
Bei Aktenlagen- und Untersuchungsgutachten geht es sehr oft um die Frage, ob einen bestimmte ärztliche Maßnahme der Diagnostik und/oder Therapie als medizinisch notwendig anzusehen ist oder nicht. Diese Frage ist durch den Gutachter zu beantworten.
Die medizinische Notwendigkeit ist dabei kein Begriff des allgemeinen Sprachgebrauches, sondern eine juristisch voll überprüfbare Feststellung, deren Bedeutungsinhalt dem Gutachter hundertprozentig klar sein muss.
Daher sind Begriffe wie “medizinisch sinnvoll”, “sinnvoll”, “wünschenswert”, “durchaus vertretbar”, “nützlich” u.ä. in allen Gutachten zu vermeiden, da es ausschließlich um den Begriff der medizinischen Notwendigkeit geht. So rügte beispielsweise das OLG Köln die Verwendung der Begriffe “sinnvoll” und “durchaus vertretbar” in seinem Urteil vom 14. Juni 1993 (VersR 1993: 1514).
Eine Leistungspflicht besteht im Bereich der PKV nach den MB-KK grundsätzlich nur für medizinisch notwendige Maßnahmen (§ 1 Abs. 2 S.1 MB/KK).
Definition
Eine Behandlungsmaßnahme ist medizinisch notwendig, wenn es nach den
- objektiven
- medizinischen Befunden
- und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Behandlung
- vertretbar
war, sie als medizinisch notwendig anzusehen (BGH Urt. V. 10. Juli 1996 – IV ZR 133/95).
Wir haben die Definition bewusst auf mehrere Zeilen verteilt, um die einzelnen zu prüfenden Bestandteile erkennbar werden zu lassen. Die Definition ist nur im ersten Anschein selbsterklärend, es ist demnach keineswegs so, dass alles, was der Behandler als medizinisch notwendig angesehen hat, auch medizinisch notwendig war.
Die Definition setzt voraus, dass die
Heilbehandlung aus medizinischer Sicht geeignet war, einen Behandlungserfolg zu erzielen.
Allein die Eignung entscheidet, der Behandlungserfolg ist unerheblich. So ist die Einlassung, dass die Behandlung gewirkt habe, nicht entscheidend für die Beurteilung der med. Notwendigkeit. Die Beurteilung ist vom Standpunkt ex ante, also vor Behandlungsbeginn, vorzunehmen. Behandlungserfolg: Heilung, Besserung,. Linderung.
Die Beurteilung ist nur individuell ganz konkret bezogen auf die Umstände des Einzelfalls möglich, keinesfalls für eine Behandlungsmethode an sich oder für einen vermeintlich vergleichbaren Fall. Das Gutachten muss, wenn es gerichtsfest sein soll, auf den vollständigen Krankenunterlagen, die die zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden objektiven Befunde enthalten, gestützt werden.
Aspekte der Prüfung
Um die med. Notwendigkeit zu beurteilen, muss sich der Gutachter daher auf den Kenntnisstand des Behandlers vor Beginn der Behandlung zurückversetzen und die vollständigen Krankenunterlagen zum damaligen Zeitpunkt einsehen können.
- objektive Befunde
Nicht die subjektiven Angaben des Patienten (Beschwerden) sind zu beurteilen, sondern die objektiven Befunde des Arztes (Klinischer Befund, apparative Verfahren).
- medizinische Befunde
Nicht paramedizinische Befunde, sondern ausschließlich von der medizinischen Wissenschaft anerkannte Befunderhebungen sind zu bewerten.
- wissenschaftliche Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Behandlung
Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Wissenschaftlichkeit. Dies bedeutet, dass Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften sowie die herrschende Lehrmeinung eine weit reichende Bedeutung für die med. Notwendigkeit haben.
- vertretbar
Vertretbar ist die med. Notwendigkeit einer Heilbehandlung nur dann, wenn sie
- in begründeter
- und nachvollziehbarer wie
- wissenschaftlich fundierter Vorgehensweise
das zu Grunde liegende Leiden diagnostisch hinreichend erfasst und eine
- ihm adäquate
- geeignete Therapie anwendet.
Wieder haben wir die Definition der Vertretbarkeit zerlegt, um die einzelnen zu prüfenden Aspekte deutlich werden zu lassen.
Es kommt nicht auf die bloße Vertretbarkeit aus medizinischer Sicht, sondern auf die Vertretbarkeit der med. Notwendigkeit an. Die med. Notwendigkeit darf nicht mit dem Hinweis verneint werden, dass es billigere Behandlungsmöglichkeiten gibt (BGH Urt. V. 12. März 2003 – VI ZR 278/01). Das Urteil betraf die Abrechnung der Alphaklinik München und hatte grundsätzliche Bedeutung für die Fallpauschalenabrechnung gegenüber der PKV. Höhere als übliche Fallpauschalen konnten nach diesem Urteil berechnet werden.
Die Behandlung muss begründet sein. Dies bedeutet im Einzelfall, dass der Behandler eine Begründung nachliefert, ist das Gutachten ohne eine solche, im Rahmen einer sog. Arztanfrage zu formulierende Begründung nicht erstellbar, so ist es zunächst als unvollständiger Auftrag anzusehen und nicht zu erstellen. Es ist der IMB Consult mitzuteilen, welche Begründung(en) eingefordert werden sollen. Die medizinische Notwendigkeit setzt die Geeignetheit und Erforderlichkeit voraus. Erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn nicht andere erfolgversprechende und/oder gefahrlose geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen (AG München, Urteil vom 11. Dezember 2003, VersR 2005: 394). Insbesondere muss die Methode zur Behandlung der vorliegenden Erkrankung bewährt und erfolgversprechend sein (LG München I, Urteil vom 14. Oktober 2004 – 34 S 11663/03).
Die bloße Begründung aus Sicht des Behandlers ist aber nicht ausreichend, die med. Notwendigkeit zu bejahen. Die Begründung muss für den Gutachter auch nachvollziehbar sein (Plausibilitätsgrundsatz). Der Gutachter urteilt darüber aus der objektiven Sicht des unabhängigen Sachverständigen.
Auch die Nachvollziehbarkeit genügt noch nicht, die Vorgehensweise muss wissenschaftlich fundiert sein. Hier taucht wiederum die Wissenschaftlichkeit auf. Einzelfallbeobachtungen können ebenso wenig wie sog. Erfahrungswerte eine Rolle spielen, auch der Behandlungserfolg im Einzelfall sagt nichts über die med. Notwendigkeit aus. Die Maßnahme muss sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Anwendung messen lassen.
Bitte beachten Sie, dass alle drei Voraussetzungen (begründet, nachvollziehbar, wissenschaftlich fundiert) erfüllt sein müssen, wenn die med. Notwendigkeit bestätigt werden soll. Bei genauer Prüfung stellen sich daher eine Vielzahl durchgeführter Maßnahmen als med. nicht notwendig heraus.
Die Gutachten müssen im Text der Ärztlichen Stellungnahme auf die vorstehenden Aspekte der Prüfung eingehen. Die bloße Feststellung, die Maßnahme sei notwendig oder eben nicht, genügt nicht.
Begutachtung sog. Alternativer Methoden
§ 4 Abs. 6 MB/KK sieht eine Leistungspflicht nur für Maßnahmen vor, die
- von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind.
Darüber hinaus wird geleistet, wenn
- sich Methoden in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben
- keine schulmedizinischen Methoden zur Verfügung stehen.
Die IMB Consult sieht darüber hinaus im Einzelfall auch eine Leistungspflicht, wenn alle zur Verfügung stehenden schulmedizinischen Verfahren ohne nachhaltig positive Wirkung ausgeschöpft wurden und dies durch objektive ärztliche Feststellung auch nachvollziehbar begründet wurde.
Ein Urteil des BVerfG wird gelegentlich als Argumentationshilfe von Behandlern zitiert, um sogenannte Alternative Methoden zu rechtfertigen und eine Leistungspflicht der PKV abzuleiten.
Dieses Urteil (BVerfG vom 06. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98) trifft aber streng genommen für die GKV zu, da es hier unter anderem um eine Fürsorgepflicht des Staates bei einer Zwangsversicherung (GKV) geht. Dies ist für die PKV nicht einschlägig.
Nach diesem BVerfG-Urteil besteht eine Leistungspflicht der GKV für nicht anerkannte Behandlungsmethoden bei lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlicher Erkrankung (streitgegenständlich war eine Behandlung u.a. mit Bioresonanz bei einer Muskeldystrophie Typ Duchenne).
Auch die nachfolgend induzierte Änderung der ständigen BSG-Rechtsprechung kann unseres Erachtens nicht als Argumentation im Bereich der PKV dienen, so dass dieses Urteil für die Begutachtung der med. Notwendigkeit in der PKV unbeachtlich bleiben muss.
Verwendung
Der vorstehende Text wurde im Jahre 2005 als Leitlinie wird unseren Aktenlagengutachtern sowie den Ansprechpartnern unserer Versicherungskunden zur Verfügung gestellt. Sie ist den Gutachten zur Prüfung der medizinischen Notwendigkeit zu Grunde zu legen.
Im allen Zweifelsfällen empfehlen wir unseren Gutachtern, den ärztlichen Dienst der IMB Consult vor der Abfassung der gutachtlichen Aussage zu konsultieren.
© IMB Consult 2005