Über die Definition von Krankheit und Gesundheit gab es in den zurückliegenden Jahrzehnten eine kontrovers geführte Diskussion. Letztlich müssen juristische Auslegungen ebenfalls Berücksichtigung finden, wenn man die Krankheit als Leistungspflicht-auslösende conditio sine qua non bei der Beurteilung der Leistungspflicht der PKV beurteilt.
Private Krankenversicherer leisten grundsätzlich nur bei medizinisch notwendiger Heilbehandlung bei Krankheit (§1 Abs. 2 Satz 1 MB/KK).
Was ist nun Krankheit?
WHO-Ansatz (1):
Die WHO definiert nicht die Krankheit, sondern den Gegenbegriff der Gesundheit (1963): “Ein Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht lediglich das Freisein von Krankheit und Schwäche”. (“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”). Diese Definition ging vielen nachvollziehbar zu weit – insbesondere dann, wenn man die Nichterfüllung der Definition sofort als Krankheit einstufen würde.
Statistischer Ansatz (2):
In der klinischen Praxis beschreitet man oft einen völlig anderen, d.h. statistischen Definitionsweg. Als “krank” gilt hier jeder Zustand, der außerhalb eines gewissen Entfernungsbereiches vom Mittelwert liegt. Dieses Maß kann jeden quantifizierbaren Zustand erfassen, also etwa Körpergröße, -gewicht oder Hämoglobingehalt. Nach dieser Definition liegen üblicherweise ca. fünf Prozent der Bevölkerung außerhalb des “Norm”-Bereiches. Sie müssen deshalb aber nicht “krank” sein. Wie eng oder weit eine Krankheitsdefinition auch gefasst sein möge, sie zielt immer darauf ab, Übereinstimmung zu erzielen. Mit anderen Worten, die Definition ist nur dann sinnvoll, wenn sie von Patienten oder Ärzten auch allgemein akzeptiert und angewandt wird. Dies führt zu der prinzipiellen Frage, ob “Krankheit” überhaupt eine natürliche Kategorie oder nicht vielmehr eine “Erfindung” unseres sozialen Umfeldes ist. Diese Frage spielt insbesondere bei der Abgrenzung sogenannter “kosmetischer Indikation” von “medizinischer Indikation” eine große Rolle.
Die “Nicht-Krankheit”:
Für Richard Smith, Herausgeber des British Medical Journal, definiert sich eine “Nicht-Krankheit” als “ein menschlicher Vorgang oder ein Problem, das von manchen als Erkrankung beurteilt wird, obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre.” In der Hitliste der “Nicht-Krankheiten” wurden bei einer Umfrage des BMJ genannt:
- Altern
- Arbeitsplatzprobleme
- Langeweile
- Tränensäcke
- Unwissen
- Kahlköpfigkeit
- Sommersprossen
- Große Ohren
- Graue oder weiße Haare
- Hässlichkeit
Aus dieser Hitliste wird erkennbar, welche Rolle gesellschaftlich “akzeptierte” und “sanktionierte” Zustände bei der Zuweisung zum Begriff der Krankheit spielen.
Für die PKV und deren Leistungspflichtbeurteilung spielt auch das Urteil OLG Karlsruhe vom 17. Januar 1991 (VersR 1991, 913) eine Rolle:
“Nicht jede Abweichung in der körperlichen Beschaffenheit von dem als normal zu betrachtenden oder als wünschenswert empfundenen Zustand, die objektiv oder subjektiv als mehr oder weniger gravierender Mangel empfunden wird, ist eine Krankheit. Krankheitswert kommt einer solchen Abweichung nur dann zu, wenn sie über ein reines Missempfinden hinaus zu Beschwerden oder Behinderungen im Sinne einer nicht ganz unerheblichen Funktionsstörung führt.”
Voraussetzungen für die Krankheit sind demzufolge:
- Missempfinden
- Beschwerden oder Behinderungen
- Nicht ganz unerhebliche Funktionsstörung
Das Vorliegen dieser drei Voraussetzungen muss daher bei der Feststellung einer Krankheit immer geprüft werden.
Ob sich ein bestimmter körperlicher oder auch seelischer Zustand als Krankheit im Sinne des §1 Abs. 2 Satz 1 MB/KK zu werten ist, ist anhand des Sprachgebrauchs des täglichen Lebens, wie er sich auf der Grundlage allgemein bekannt gewordener Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft gebildet hat, zu beurteilen. Krankheit bezeichnet danach einen anomalen geistigen oder körperlichen Zustand, der, bedingt durch eine Störung oder einen Ausfall körperlicher oder geistiger Funktionen eine nicht ganz unerhebliche, das Maß des nach den allgemeinen Lebensverhältnissen zumutbaren überschreitende Beeinträchtigung des Betroffenen zur Folge hat (3,4).
Das Bundessozialgericht definiert Krankheit wie folgt:
Als Krankheit gilt nach der sozialversicherungsrechtlichen Definition ein
regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung nach sich zieht oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.
Danach muss ein objektiv fassbarer regelwidriger Zustand des Körpers oder des Geistes oder beider zugleich vorliegen, der von der Norm abweicht un d der durch eine Heilbehandlung behoben, gelindert oder zumindest vor einer drohenden Verschlimmerung bewahrt werden kann (BSG, 18. Juni 1968, 3 RK 63/66).
Die bloße Gefahr einer späteren Erkrankung ist noch keine Krankheit (AG Bielefeld, Urteil vom 17. Juli 2002, r+s 2003, 207).
Begriff der „Entstellung“:
Im Rahmen der Prüfung auf medizinische Notwendigkeit spielt auch der Begriff der „Entstellung“ eine Rolle, nämlich bei der Unterscheidung von kosmetischen und medizinische Indikationen bei geplanten operativen Behandlungen wie Ohranlege-, Lidanhebeplastiken und bei der korrigierenden Mammachirurgie.
Solche Maßnahmen sind nur dann medizinisch notwendig, wenn
- eine behandlungsbedürftige Erkrankung mit funktionellen Auswirkungen und/oder
- eine Entstellung
vorliegt.
Eine Entstellung kommt nicht bei jeder körperlichen Anomalität in Betracht, es muss vielmehr
objektiv eine erhebliche Auffälligkeit
vorliegen, die naheliegenden Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier und/oder Betroffenheit auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und deshalb ein Rückzug aus der Gemeinschaft und Vereinsamung droht (BSG 28. Februar 2008, B 1 KR 19/07 R).
Literatur: