Sog. Arbeitsplatzunverträglichkeit

Abzugrenzen von depressiven Störungen ist die Arbeitsplatzunverträglichkeit (A.). Sie ist dadurch definiert, dass durch belastende Faktoren am konkreten Arbeitsplatz („mobbing“) die Unmöglichkeit besteht, den Arbeitsplatz aufzusuchen, ohne Symptome zu entwickeln. Dadurch entsteht ein Vermeidungsverhalten, das auf das Fernbleiben vom Arbeitsplatz ausgerichtet ist. Zusätzlich können psychiatrische Symptome wie depressive Verstimmung, Körpersymptome u.a. auftreten. Bis 2011 war dieser Zustand gleichbedeutend mit der Feststellung der Arbeitsfähigkeit.

Nach dem Urteil des BGH vom 9. März 2001 (IV ZR 137/10) war dies nicht mehr möglich (5).

Aus dem Urteil: “Maßstab für die Prüfung der Arbeitsunfähigkeit ist der bisherige Beruf in seiner konkreten Ausprägung. Mit Blick darauf kann der Krankentagegeldversicherer von dem Versicherten, der durch besondere Umstände an seinem bisherigen Arbeitsplatz krank geworden ist, nicht einen Wechsel des Arbeitsplatzes, die Wahl eines anderen Arbeitsumfeldes oder arbeitsrechtliche Schritte gegen den Arbeitgeber verlangen. Dies gilt auch dann, wenn sich der Versicherte  an seinem Arbeitsplatz einer tatsächlichen oder von ihm als solcher empfundenen Mobbingsituation ausgesetzt sieht, hierdurch psychisch und/oder physisch erkrankt ist und infolgedessen seine berufliche Tätigkeit nicht ausüben kann. Auch in einem solchen Fall sind die genannten Voraussetzungen eines Versicherungsfalles erfüllt. Die Arbeitsunfähigkeit entfällt nicht deshalb, weil der Versicherte bei Bereinigung der Konfliktsituation an seinem konkreten Arbeitsplatz oder durch einen Wechsel seines Arbeitsplatzes wieder arbeitsfähig wäre. Auf die Möglichkeiten des Arbeitgebers im Rahmen seines Direktionsrechts kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass der Versicherte aufgrund seiner Erkrankung seiner bisher ausgeübten beruflichen Tätigkeit in der konkreten Ausgestaltung nicht nachgehen kann. Bei einem weitergehenden Verständnis des Begriffs der beruflichen Tätigkeit wäre der Versicherte zu einem Arbeitsplatzwechsel gehalten, der ihm aber auch als Obliegenheit auf der Grundlage des § 9 (4) MB/KT nicht abverlangt wird.

Es handelt sich nicht, wie die Revision meint, um eine bloße “Arbeitsplatzunverträglichkeit”, wenn die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung der versicherten Person durch Umstände an ihrem bisherigen Arbeitsplatz verursacht oder verstärkt worden ist. Vielmehr kann der Versicherte auch dann arbeitsunfähig i.S. von § 1 (3) MB/KT sein, wenn die seine Erkrankung auslösenden Umstände mit seinem bisherigen Arbeitsplatz zusammenhängen.

Aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers ergibt sich aus dem Wortlaut des § 1 (2) und (3) MB/KT nicht, dass es auf die Ursache der Krankheit, die zur Arbeitsunfähigkeit führt, ankommen soll. Insbesondere ist für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht erkennbar, dass psychische und physische Erkrankungen ausgeschlossen sein sollen, wenn sie durch so genanntes Mobbing ausgelöst oder begünstigt werden.”

Gutachtliche Aufgabe in solchen Fällen ist es daher, die Krankheitsfolgen, die sich aus der Mobbingsituation ergeben haben, herauszuarbeiten und anhand deren Ausprägung festzustellen, ob weiterhin 100%ige Arbeitsunfähigkeit bezogen auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit vorliegt oder nicht.

Literatur:

  1. Dilling, H. u.a.: WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 Kapitel V). Verlag Hans Huber 4. Exp. 2000.
  2. Brunnhuber, S.; K. Lieb: Kurzlehrbuch Psychiatrie. 4. Exp., Urban & Fischer, München, Jena 2000.
  3. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (DGPM), Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), Deutsches Kollegium Psychosomatische Medizin (DKPM), Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP): Psychotherapie der Depression. April 2002.
  4. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): Affektive Erkrankungen. April 2000.
  5. Urteil des BGH vom 9. März 2010 (IV ZR 147/10).